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Erstmals haben Christen, Juden und Muslime am Donnerstag in Hamburg gemeinsam mit einer Mahnwache an die Reichspogromnacht vor 70 Jahren erinnert.
"Dass wir hier nicht alleine stehen, das ist für mich die Botschaft des Tages", sagte der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Ruben Herzberg bei der Veranstaltung am Joseph-Carlebach-Platz. Kantor Arie Gelber rezitierte zum Gedenken an die Opfer ein jüdisches Gebet, das Kaddisch. Bischöfin Maria Jepsen appellierte, aus den Lehren der Geschichte zu lernen. "Antisemitismus, Antijudaismus, Rassismus sind keineswegs überwunden, im Gegenteil: wir erleben ein immer dreisteres Auftreten der ganz Rechten, der Nazis", sagte Jepsen.
Rede von Steffi Wittenberg, VVN-BdA anlässlich der Mahnwache:
„Erinnerung und Mahnung sind unverzichtbar“ Rede von Steffi Wittenberg, VVN-BdA anlässlich der Mahnwache zur Erinnerung an den 70. Jahrestag der Reichspogromnacht am Donnerstag, 6. November 2008, Joseph-Carlebach-Platz, Hamburg Heute gedenken wir der Reichspogromnacht vom 9.November 1938, vorbereitet von der Naziregierung vor 70 Jahren. Es waren unheilvolle Tage und Nächte, die für alle sichtbar die Lebensgrundlage derjüdischen Bevölkerung in Deutschland vernichteten. Diesen Eingriff, den das Nazireich in das jüdische Leben des deutschen Volkes unternommen hat, spüren wir bis heute. Nach der Vertreibung und Ermordung der Juden ist die Wiederbelebung der jüdischen Kultur in Deutschland ein schwierigesWerk. Wir stehen am Joseph-Carlebach-Platz, dem ehemaligen Bornplatz, auf dem die große „Bornplatz-Synagoge“ stand, in der bis zu ihrer Zerstörung der in Riga ermordete Oberrabiner Joseph Carlebach gepredigt hatte. Auch ich habe ihm in dieser Synagoge als jüdische Schülerin sehr interessiert zugehört hatte. Ich möchte die Gelegenheit nehmen, noch einmal den allerherzlichstenDank an die Schüler und Schülerinnen der Altrahlstedter Schule auszusprechen, die hier vor einer Woche den Carlebach- Platz (ehemals Bornplatz) so engagiert gereinigt haben. Sie wissen also, was hier geschehen ist. Wir hatten den Zeitzeugen Schlomo Schwarzschild eingeladen, der als 13-jähriger jüdischer Junge an diesem Tag 1938 die Schändung der Synagoge miterlebte und eine Scherbe der zertrümmerten Glasscheiben ergriff und bis auf den heutigen Tag bei sich verwahrt. Er konnte als jüngstes Familienmitglied Ende 1939 mit einem Einreisezertifikat nach Palästina ausreisen und sich retten.Eigentlich war dieses Zertifikat für seinen älteren Bruder bestimmt, aber da dieser die zulässigeAltersgrenze von 15 Jahren überschritten hatte, wurde der jüngere Schlomo, damals Salomon Schwarzschild, nach Palästina geschickt und gerettet. Damit war das Schicksal der übrigen Familienmitglieder besiegelt: Die Eltern, die Schwester und die beiden älteren Brüder wurden Ende 1941 nach Minsk und Riga deportiert und ermordet. Schlomo ist der einzige Überlebende,Er wollte zum 70. Jahrestag so gerne kommen. Aber er musste aus gesundheitlichen und versicherungstechnischen Gründen bedauerlicherweise diese Reise absagen und in Israel bleiben. Vielleicht können wir ihn später einmal wieder begrüßen. Vor wenigen Tagen hörte ich im Radio Ansprachen zur Einweihung einer weiteren Gedenkstätte des ehemaligen KZ Bergen Belsen. Dazu sprach Lucille Eichengreen – 1925 in Hamburg geborene Cecilia Landau. Der Vater wurde im KZ Dachau ermordet, die Mutter, die Schwester und Cecilia wurden am 25. Oktober 1941 nach Lodz deportiert. Nur Cecilia überlebte nach vierjährigem Getto- und KZ-Aufenthalt. Sie wurde von Lodz nach Auschwitz weiter deportiert und von dort zurück nach Hamburg als Zwangsarbeiterin. Ganz zum Schluss, als die Engländer vor den Toren Hamburgs standen, kam sie in das KZ Bergen-Belsen, wo sie im April 1945 von den Engländern befreit wurde. Sie ist vergangenen Sonntag wieder in ihre jetzige Heimat nach Kalifornien zurückgereist und hinterließ eine Botschaft für unsere Mahnwache: Aus ihrem Buch von „Asche zu Leben“ hat Lucille eine Stelle zum neunten November 1938 herausgesucht:
„Doch dann kam dieser Morgen – ein Morgen der so aussah wie jeder andere. In den Straßen war es ruhig. Vielleicht zu ruhig. Irgendetwas stimmte nicht. Aber was? In der Nähe der Rentzelstraße (auf dem Wege zur Schule Karolinenstraße) trafen wir zwei Klassenkameradinnen. Sie weinten. Erst nach einer Weile erzählten sie uns den Grund. So erfuhren wir, dass während der Nacht Deutsche jüdische Geschäfte geplündert hatten, dass sie Synagogen angezündet und entweiht hätten, nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland. Es war der 10. November 1938. Wir blieben stehen und redeten. Schließlich entschieden wir uns, dass die Schule heute geschlossen bleiben sein müsse und gingen in die entgegengesetzte Richtung zum Bornplatz. Wir konnten schon von weitem den Rauch riechen, in unmittelbarer Nähe der großen Synagoge sahen wir größere Gruppen von Männern. Einige in SA-Uniformen, einige in Zivilkleidung. Wir trauten uns jedoch nicht dichter an sie heran. Wir gingen an kleinen Läden vorbei und sahen Glasscherben auf der Straße liegen. Und wir sahen Menschen die da standen und lachten. Um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, trennten wir uns, und ich ging in einer anderen Richtung nach Hause“ …[Ende des Buchzitats].“ Aus heutiger Sicht grüsst Lucille Eichengreen unsere Veranstaltung mit folgenden Worten:„Im Mai 1933 verbrannten nationalsozialistische Studenten in aller Öffentlichkeit die Bücher und Schriften namhafter Autoren. Im November 1938 brannten in Deutschland Synagogen und Tempel, es wurden Geschäfte zerstört und geplündert. Vor aller Augen. Nur wenige Jahre später wurdendeutsche sowie andere europäische Juden in Gettos und Konzentrationslager deportiert und zu Tausenden in Krematorien verbrannt. Wie man sagt: ein Zivilisationsbruch, der aber schon einsetzte, als im Januar 1933 Hitler die Macht übergeben wurde. Was mich zutiefst erschüttert, ist nur nichtder Mangel an Zivilcourage und Protest, sondern auch die Verleugnung der Tatsachen nach 1945. Wie kann man sagen, man hätte von all dem nichts gewusst. Erinnerung und Mahnung sind unverzichtbar.“ Ich selbst war in derselben jüdischen Schule in der Karolinenstraße wie Lucille, im gleichen Schuljahrgang, aber wohl in der Parallelklasse. Den 9. November 1938 habe ich erlebt nur mit meiner Mutter, noch am Mittelweg wohnend, weil mein Vater und mein Bruder schon nach Montevideo, Uruguay geflüchtet waren. Ich machte an diesem bösen Tag auf dem Weg zur Schule in der Binderstrasse kehrt, weil Kinder mich auf das Brennen der Synagoge aufmerksam gemacht hatten. Zuhause herrschte große Aufregung, weil sich die Verhaftung der jüdischen Männer herumgesprochen hatte. In unserem Etagenhaus wohnten zwei weitere jüdische Familien namens Meyer und Haas,Die beiden Familienväter übernachteten in unserer Wohnung, weil bei uns kein jüdischer männlicher Bewohner mehr polizeilich gemeldet war. Sie blieben damals auch verschont. Allerdings wurde die Familie Haas mit ihrem kleinen Sohn Fredy wie Lucille Eichengreen am 25.Oktober
1941
nach Lodz deportiert. Vater Max Haas, Mutter Lily Haas und der kleine Fredy Haas wurden ermordet. Dagegen konnte die Familie Meyer in die USA fliehen. Auch meiner Mutter und mir blieb das Schlimmste erspart, wir konnten im Dezember 1939 nach Uruguay zu meinem Vater und Bruder ausreisen. Ich greife Lucilles Worte auf „Erinnerung und Mahnung sind unverzichtbar“. Und was sie noch in Bergen-Belsen gesagt hatte: Verzeihen? Nein. Verzeihen kann man diese unvorstellbaren NS-Verbrechen nie, aberdie Nachkommen müssen alles wissen: „Die Wahrheit“. Und damit tun sich viele schwer. Wie viele an NS-Verbrechen beteiligte SS-Angehörige, Polizeieinsatztruppen und auch Wehrmachtsangehörige gingen nach der Befreiung vom Faschismus straffrei aus – oder erhielten sehr milde Strafen. Und später fand man sie wieder in verantwortlichen Positionen in der Bundesrepublik. Eines
der letzten Beispiele betrifft einige Mitglieder im Kameradenkreis der Gebirgsjäger, die für Massaker in italienischen und griechischen Dörfern durch italienische Gerichte rechtskräftig in Abwesenheit verurteilt wurden. Der Verein, dem mittlerweile auch Soldaten der Bundeswehr angehören, trifft sich jährlich im Mittenwald, mit Unterstützung der Bundeswehr und der bayrischen Landesregierung. Wehe dem, der die Kriegsverbrecher mit scharfen Worten anprangert, dem wird eine hohe Geldstrafe angedroht, wie es unserem VVN-Bundessprecher Ulli Sander aus Dortmund ergangen ist. Also nicht der Täter, sondern der Aufklärer muss sich verantworten. Ein anderes Beispiel betrifft die ehemaligen litauischen und lettischen jüdischen Partisanen, die auf Seiten der Roten Armee gegen die Angreifer, die Armee Nazideutschlands gekämpft hatten. Die werden jetzt in Litauen und Lettland vorgeladen, zunächst als Zeugen. Sie sollen aussagen und ihnen wird Kooperation mit sowjetischen „Terroristen“ vorgeworfen. Auch wenn die bundesrepublikanischen Autoritäten Aufklärung über diese Untersuchungen verlangt haben, finden wir keine öffentlichen Stellungnahmen oder Proteste dagegen in unseren führenden Print- und TV-Medien. Dass die Sowjetarmee Deutschland vom Faschismus befreit hat, nachdem ihr eigenes Land nach dem Überfall durch die Wehrmacht unsägliches Leid, Zerstörung, Mord, Folter und Gefangenschaft erdulden musste, das ist kaum noch ein Thema im Jahre 2008. Immer wieder gibt es Ansätze, Verfolgungen in der DDR mit dem von Nazideutschland angerichteten Massenmord – der Shoa –gleichzusetzen, total ahistorisch und den deutschen Faschismus und Antisemitismus verharmlosend. Jetzt gibt es eine gemeinsame Erklärung gegen Antisemitismus derBundestagsfraktionen, ausgenommen davon wird Die Linke, u.a. weil sie dem DDR-Antisemitismus-Passus nicht zustimmt. Man könnte nach 70 Jahren nicht nur Antisemitismus und Rassismus, sondernauch den traditionsreichen Antikommunismus entsorgen. Wenn mit der gleichen Vehemenz diebundesdeutschen Institutionen darauf hinarbeiten würden, die NPD mit ihren fremdenfeindlichen und verfassungsfeindlichen Parolen zu verbieten, dann würde diese Partei nicht mehr erlaubt sein und junge Verführte nicht mehr unter dem Schutz der Polizei demonstrieren können. Es hätte auchnicht die ärgerlichen Ereignisse der Maidemonstrationen dieses Jahres in Barmbek gegeben. Und auch die abstrusen Aktivitäten des Hamburger Rechtsanwalts und Immobilienkäufers Jürgen Rieger zugunsten der Neonazis könnten in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz gestoppt werden. Dem 70. Jahrestag folgt der 71. Jahrestag, und die Lebenszeit der Zeitzeugen läuft ab. Deshalb machen die Stolpersteine einen Sinn, weil sie daran erinnern, dass Juden, Sinti, Roma, Antifaschisten, Oppositionelle, Christen, Behinderte, homosexuelle Menschen in Nazideutschland ermordet wurden – und ihre Namen sind festgehalten. Aber es ist notwendig, auch die Täter des NS-Regimes zu nennen und die Zusammenhänge offen zu legen, damit die nachfolgende Generation die ganzeWahrheit kennt und weiß, dass die Einhaltung derMenschenrechte oberstes Gebot ist, für alle Bürger, egal welcher Hautfarbe, Herkunft – und anständiger Gesinnung. Vielleicht setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass durch Kriege Auseinandersetzungen selten gelöst werden. Es gibt auch Menschen, die sagen, an allemElend ist der Raubtierkapitalismus schuld. Tun wir was dagegen. Arbeiten wir am Frieden untereinander, am Humanismus, gerechtem Lohn, Bildung für jeden Erdenbürger, dann wird esvielleicht für alle Menschen ein Genuss sein, in dieser Welt zu leben und Faschismus und Massenmord gibt es nur noch in den Geschichtsbüchern.