Die deutsche(n) Schuld(en) und Griechenland: Unwille zur Verantwortung
Ein Beitrag zur Klarheit in der gegenwärtigen Debatte über die
griechischen Entschädigungsforderungen
Es ist paradox. Griechenland braucht Geld. Dabei hat es Guthaben. Das
Guthaben liegt in Deutschland und – als deutsches Staatseigentum im
Ausland – in verschiedenen (europäischen) Ländern. Deutschland schuldet
Griechenland seit ca. 70 Jahren eine Summe, die heute auf bis zu 575
Milliarden EUR geschätzt wird (so das Mitglied des französischen
Sachverständigenrates für ökonomische Analysen, Jacques Delpla, in Les
Echos vom 23.06.2011) für:
1.
Die Zahlung der auf der Pariser Reparationskonferenz von 1946
festgelegten Reparationen. Die Bundesregierung behauptet, die
Reparationen seien bereits im Rahmen eines „Globalabkommens“ in den 60er
Jahren gezahlt worden. Im deutsch-griechischen Vertrag vom 18. März 1960
war vereinbart worden, dass die Bundesrepublik Deutschland 115 Millionen
DM „zugunsten der aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der
Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen
betroffenen Staatsangehörigen“ an Griechenland zahlt. Diese Zahlung
erfolgte für die grausame Verfolgung der griechischen Juden. Allein in
Thessaloniki starben ca. 50.000 Menschen jüdischen Glaubens durch Mord
und Deportation. Die Zahlung aus dem sog. „Globalabkommen“ hatte nichts
mit den Verpflichtungen zur Reparationszahlung zu tun. Das ergibt sich
schon aus dem Wortlaut des Vertrages.
Auf die 1946 bestimmte Reparationssumme wurde bis heute nichts gezahlt.
2.
Die Rückzahlung der „Zwangsanleihe“. 1942 wurde die Bank von
Griechenland von den NS-Besatzern gezwungen, ihre Devisenreserven als
„Zwangsanleihe“ abzugeben. Bei Kriegsende betrug die Summe – nach
Angaben des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reiches aus April 1945 – 476
Millionen Reichsmark und sollte nach Beendigung des Krieges
zurückgezahlt werden. Die Rückzahlung der Zwangsanleihe ist keine
Zahlung von Reparationen, sondern eines Darlehens. Gezahlt wurde nichts.
Völlig unabhängig von diesen Ansprüchen schuldet Deutschland
3.
Entschädigungssummen, die in ihrer Gesamtheit bisher noch gar nicht
berechnet worden sind, an die Überlebenden und Angehörigen der während
der Besatzung begangenen NS-Massaker, denen mindestens 30.000 Menschen
zum Opfer gefallen sind. Darüber hinaus wurde(n) persönliches Eigentum
und ganze Ortschaften zerstört, oft bis auf die Grundfesten
niedergebrannt, tausende von Existenzen vernichtet. Für diese Verbrechen
wurde bis zum heutigen Tag kein Cent gezahlt.
Die Überlebenden und Angehörigen des griechischen Dorfes Distomo, das in
jährlichen Zeremonien noch heute der 218 Opfer des NS-Massakers vom 10.
Juni 1944 gedenkt, erstritten bis zu dem höchsten Gericht Griechenlands
– dem Areopag – eine Entschädigungssumme von 28 Millionen Euro. Seitdem
ist die Summe zu verzinsen. Denn trotz des im Jahre 2000 rechtskräftigen
und vollstreckbaren Urteils weigert sich die Bundesrepublik Deutschland
zu zahlen. Die Gläubiger aus Distomo betreiben die Vollstreckung ihrer
Ansprüche in deutsches Staatseigentum inzwischen in Italien – gegen den
hinhaltenden deutschen Widerstand, aber mit Zustimmung des italienischen
Verfassungsgerichts.
Die rechtskräftig festgestellten Entschädigungsforderungen könnten auch
in Griechenland selbst vollstreckt werden. Und nur darum geht es
aktuell. Bereits im Jahr 2000 hatte der griechische Anwalt der NS-Opfer,
Ioannis Stamoulis, das Goethe-Institut, das deutsche Archäologische
Institut und die deutsche Schule in Athen sowie die deutsche Schule in
Thessaloniki gepfändet, um es zu Gunsten der Gläubiger aus Distomo zu
versteigern. Im Jahr 2001 war die Realisierung der Ansprüche daran
gescheitert, dass auf den massiven politischen Druck aus Berlin und die
Drohung, die Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone zu verhindern, der
damalige Justizminister die notwendige Zustimmung zur Vollstreckung
nicht erteilt hatte.
Der jetzige Justizminister, Nikos Paraskevopoulos, hat in der letzten
Woche lediglich erklärt, er werde – anders als sein Vorgänger – den
Vollstreckungsmaßnahmen der Gläubiger aus Distomo zustimmen. Es handelt
sich um eine Selbstverständlichkeit, die Deutschland deshalb so sehr
fürchtet, weil das Beispiel Distomo Schule machen könnte. Die
Entschädigungsansprüche aus Nazi-Kriegsverbrechen sind vererblich und
können noch viele Jahre und in all den Ländern, die von Nazi-Deutschland
überfallen worden sind, durchgesetzt werden. Allerdings klang diese
Ankündigung so, als könnte sie auch wieder fallen gelassen werden, wenn
Deutschland andere Zugeständnisse an Griechenland macht. Dies wäre
allerdings ein Fehler. Forderungen individueller Opfer dürfen nicht
gegen andere Forderungen verrechnet werden.
Die Bundesregierung behauptet, mit dem 2+4-Vertrag habe
sich die
Reparationsfrage erledigt – weil sie in diesem Vertragswerk nicht
geregelt sei (!). Die Argumentation ist rechtlich abwegig und moralisch
verwerflich. In den letzten Jahren sind Bundespräsident Gauck,
Außenminister Steinmeier und der Präsident des Europäischen Parlaments,
Martin Schulz, an die Orte der größten NS-Massaker gereist (Oradour,
Frankreich, Sant’Anna di Stazzema, Italien und Lyngiades, Griechenland)
und haben die deutsche Schuld teils in bewegenden Worten beteuert. Doch
mit der Behauptung, der 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 wirke als
Vertrag zu Lasten Griechenlands und vernichte auch die
Entschädigungsansprüche der Geschädigten, beweisen sich die schönen
Worte als reine Lippenbekenntnisse und wirken als Verhöhnung der Opfer
der faschistischen Untaten.
Abgesehen davon, dass Verträge zu Lasten Dritter – Griechenland war
nicht Vertragspartner – im Vertragsrecht (auch im Völkervertragsrecht)
unwirksam sind, handelt es sich bei den Entschädigungsforderungen der
Opfer der NS-Terrorherrschaft in Griechenland nicht um
Reparationsforderungen, sondern um individualrechtliche Forderungen, die
jede/r einzelne Betroffene gegen den deutschen Staat erheben kann, ohne
von völkerrechtlichen Vereinbarungen begrenzt zu sein.
Der AK Distomo sieht in der Ankündigung der Zulassung der Vollstreckung
von rechtskräftig bestehenden, individuellen Entschädigungsansprüchen
kein Affront gegen Deutschland, sondern einen Akt der Gerechtigkeit und
eine Warnung an heutige Kriegstreiber, dass Völkerrechtsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschheit nicht mit noch so gefälligen Worten
erledigt werden können, sondern der Schädiger – so mächtig er inzwischen
sein mag – auch finanziell für das angerichtete Unrecht gerade stehen
muss und das auch noch nach 70 Jahren.
Der AK Distomo fordert weiterhin:
Sofortige Entschädigung aller griechischen Opfer des Nationalsozialismus!
Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht
vergessen!
Gemeinsamer Kampf gegen den wiedererstarkenden Faschismus in Europa!
AK-Distomo
Hamburg, den 16.03.2014
Kontakt: Martin Klingner Tel. 040-4396001 oder 040-4396002 oder
0162-1698656
Weitere Informationen:http://ak-distomo.nadir.org/