Individuelle und institutionelle Tatortbetrachtungen zur Paulinenstraße 10 und 12
von Marut G. Perle
I.
Im Sommer 2009 lernte ich Heiko Schlesselmann und das Wohnprojekt Gure Etxea kennen: Heiko recherchierte zu zwei Häusern in St. Pauli, die die Menschen des Wohnprojektes sanieren und bewohnen wollten. Damals hatte sich Heiko insbesondere mit der Paulinenstraße 10 beschäftigt und hörte von mir einiges zur Paulinenstraße 12. Heiko kündigte damals an, dass die Menschen des Wohnprojekts beabsichtigten, die Recherchen zu den beiden Häusern in einer Ausstellung zu dokumentieren. Die beiden Banner, die vom Wohnprojekt zur Geschichte der beiden Häuser entwickelt wurden, werden heute nicht zufällig am 16. Mai der Öffentlichkeit vorgestellt:
II.
Genau heute vor 71 Jahren, am frühen Morgen des 16. Mai 1940, wurden im gesamten norddeutschen Raum mehr als tausend Sinti und Roma verhaftet und, soweit sie nicht in Hamburg weggefangen wurden, im Laufe des Tages mit der Reichsbahn, städtischen Bussen oder Polizei-LKW nach Hamburg gebracht. (1)
Am selben Morgen wurden in Hamburg mehr als 550 Sinti und Roma von sechs Festnahmegruppen aus sechs Kripo-Revieren verhaftet und mit Zwischenstopp auf den Polizeiwachen in den Freihafen gebracht. Dort wurden sie gesammelt im HHLA-Fruchtschuppen C (2) am Magdeburger Hafen, einem zweistöckigen Gebäude am östlichen Rand des Gaswerkgeländes, direkt an der Baakenbrücke in der heutigen HafenCity.
Die in Lübeck verhafteten Sinti und Roma wurden am Bullerdeich entlaust und dann in die Neustädter Straße ins Obdachlosenasyl gebracht, bevor auch sie am 19. Mai im Fruchtschuppen C ankamen (3). Aus Bremen und Bremerhaven kamen Sinti und Roma, ebenso aus Oldenburg. Sintiund Roma-Familien aus dem gesamten norddeutschen Raum waren unter dem Vorwand einer angeblichen „Umsiedlung“ in den HHLAFruchtschuppen C eingesperrt worden.
Schließlichwurdengeschätzte 910 Sinti und Roma am 20. Mai 1940 frühmorgens mit einem Güterzug vom Fruchtschuppen C über den Hafenbahnhof Kai rechts aus dem Freihafen direkt in das ostpolnische Belzec deportiert.
III.
Die Hamburger Sozialverwaltung war nicht erst an der Vorbereitung und Durchführung der Deportation vom Mai 1940, sondern schon im Dezember 1939 an dem Versuch beteiligt, 1000 Sinti und Roma ins von den Deutschen okkupierte Polen zu deportieren (4). Aus einem Protokoll vom 11. Mai 1940 (5) geht hervor, dass auch der Sonderdienststelle A, die speziell zur Erfassung und Kontrolle der Hamburger Sinti und Roma im Frühjahr 1938 gebildet worden war (6), darin eine Rolle zugedacht wurde.
In der Paulinenstraße Nr. 12 hatte diese Sonderdienststelle A ihren Sitz. Als Nebenstelle des Wohlfahrtsamtes residierte die Abteilung für Wohnungslose und Wanderer hier schon seit Ende der 20er Jahre (7).
Bis zu 900 Klienten stauten sich manchmal vor dieser Dienststelle, die keine 150 Meter entfernt lag von der Landesgrenze zum bis 1937 noch preußischen Altona. Hauptaufgabe dieser Einrichtung: Wohnungslose und Wanderer den Aufenthalt in Hamburg so schwer wie möglich machen, Hilfesuchende möglichst über die Landesgrenzen abwimmeln. Schon bei der reichsweiten sog. „Bettleraktion“ 1933 wurden in Hamburg 1400 „Bettler“ verhaftet (8).Die latenten Lagerund Ausmerzungsphantasien der Wohlfahrtsexperten der 20er Jahre (9) wurden nach 1933 Wirklichkeit. Ideologisch aufge-hetzte und politisch gleichgeschaltete Verwaltungen verwalteten nicht mehr ihre Klienten, sondern fingen an, sie zu bekämpfen: die als „asozial“ und „gemeinschaftsfremd“ gebrandmarkten Menschen wurden schikaniert, in Zwangsarbeit genötigt, ihre Fortpflanzung unterbunden, schließlich in Zusammenarbeit mit Polizei und Gestapo kriminalisiert und dann zur Vernichtung freigegeben.
Die Nazi-Doktrin der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ (10) wurde ergänzt durch „kämpfende Verwaltung“ (11) z.B. des Sozialund Wohlfahrtswesens, deren Opfer nach kruden Nützlichkeitsund Lebensberechtigungs-Kriterien ausgesondert und der Vernichtung ausgeliefert wurden.Am 16. Mai 1940 hielt sich Stadtamtmann Hohm in der Paulinenstraße 12 in Bereitschaft (12), seine Mitarbeit wurde letztlich hier nicht weiter erforderlich.
IV.
Während die Sonderdienststelle A hier die typische Institution der durch Verwaltungshandeln kämpfenden Sozialverwaltung darstellt, dokumentiert Haus Paulinenstraße Nr. 10 die Verfolgungsund Vernichtungsgeschichten einer Hamburger Familie, die nach allen Regeln der damals herrschenden Verbrechergesetze bürgerlich entrechtet und ausgeraubt wurden, um sie am Ende in Auschwitz auch noch physisch auszulöschen.
Fast 70 Jahre hat das Haus Nr. 10 eine normale Geschichte: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwirbt Dr. Storch Haus Nr. 10 und lässt es zum Wohnhaus mit Arztpraxis umbauen. 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nazis, stirbt Dr. Storch. Sein Sohn Dr. Alfred Storch ist in die Schweiz emigriert und gehindert, sein Erbteil anzutreten. Seine Schwester Elsa erbt.Im Jahr der Rassegesetze 1935 wird das Haus von der NSDAP St. Pauli Nord okkupiert. Die ältere Tochter Marianne flüchtet 1937 in die Schweiz (13). Im Juni 1938 muss Elsa ihre Haushälfte verkaufen, weil sie ihren Mann Dr. Ernst Jacobson und Tochter Ruth unterhalten will.Dr. Jacobson hatte seine Arztpraxis in Altona verloren. Der faschistische NaziMob aus wildgemachten und -gewordenen Kleinbürgern hatte Dr. Jacobson sexuelle Missbrauchsdelikte unterstellt. Das insbesondere gegen wohlhabende männliche Juden benutzte Konstrukt der angeblichen „Rassenschande“ (14), also sexueller Kontakt mit einer „Ari-erin“, wurde gegen Jacobson eingesetzt: er bekam 15 Jahre Zuchthaus. (15)
Ihre Wohnung in Eppendorf (16) musste die Familie aufgeben. Elsa und Ruth mussten in Zimmern von Judenhäusern unterkommen, während ihr Mann von Gefängnis zu Gefängnis verlegt wurde. 1942, nachdem die Nazis die bürgerliche Existenz der Familie Jacobson ruiniert hatten, musste sie den Weg in die Vernichtung antreten:
Elsa und Ruth wurden am 11. Juli 1942 von Hamburg nach Auschwitz deportiert (17), Dr. Ernst Jacobson am 10. Dezember 1942 von der Hamburger Justiz an die Polizei übergeben (18), die ihn mit anderen Kriminalisierten zur Vernichtung nach Auschwitz deportierte. (19)
V.
Von Walter Benjamin stammt die Feststellung:
„Es ist kein Dokument der Kultur, ohne nicht zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“Wie schnell Kultur in Barbarei umschlagen konnte, lässt sich in der Geschichte der beiden Häuser finden.
Die Menschen des Wohnprojekte sGure Etxea haben sich mit der
Geschichte
der beiden Häuser auseinandergesetzt und sich auch den barbarischen Fakten gestellt. In der über 150-jährigen Geschichte der Häuser hat die NS-Zeit zeitlich nur zwölf Jahre beansprucht, doch die institutionell und individuell begangenen Untaten bedürfen nicht nur der Erinnerung – sie erfordern auch einen aktiven, demokratischen und solidarischen gesellschaftlichen Gegenentwurf, damit unsere Kultur immun bleibt gegen alle Versuche, sie der Barbarei auszuliefern.
Fußnoten:
1 Siehe: Ulrich Prehn: Zur Topographie und zum Ablauf der Deportationen von Roma und Sinti aus Hamburg und Norddeutschland in den Jahren 1940 bis 1944. Gutachten der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, erstellt im Auftrag der Behörde für Kultur, Sport und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und der HafenCity GmbH, Hamburg 2009 (zitiert als/z.a.: Prehn 2009) sowie: Marut G. Perle: Deportationsstätte Fruchtschuppen C. Die Deportation der Sinti und Roma im Mai 1940 und die Hamburger Freihafenlogistik. Hamburg 2010.
2 Siehe: Marut G. Perle: Der (Süd-) Fruchtschuppen C (-ehn). Deportationsstätte für Sinti und Roma aus Hamburg und Norddeutschland. Und Faksimile „Der Südfruchtschuppen am Magdeburger Hafen in Hamburg“ (Baurundschau vom 30. Mai 1912) In: Lokalberichte Hamburg Nr. 19 vom 26. September 2009, S. 10-12
3 Vgl. Landesarchiv Schleswig (LAS): Abt. 627, Nr.135: „Bericht der Lübecker Kriminalpolizei vom 20. Mai 1940“, Abgedruckt in: Prehn 2009, S. 19.
4 Staatsarchiv Hamburg (StAHH): Sozialbehörde I, AF 83.74: „Besprechung zwischen Polizei und Sozialverwaltung“ vom 12.12.1939; Abgedruckt in Linde Apel (Hg.): In den Tod geschickt. Die Deportationen von Juden, Roma und Sinti aus Hamburg 1940 bis 1945. Berlin 2009, S. 66 f. (z.a.: Apel 2009). Siehe hierzu: Uwe Lohalm: Diskriminierung und Ausgren-zung „zigeunerischer Personen in Hamburg“ 1933 bis 1939. In: Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Sinti und Roma. Vier Beiträge. Hamburg 2002, S. 31-59 und aktuell: Uwe Lohalm: Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg. München/Hamburg 2010. Siehe hier insbesondere Kap. VII: „Ausgrenzung von sogenannten Gemeinschaftsund Rassefremden und ihre Überantwortung an die Polizei“ (S.383-494).
5 StAHH: Sozialbehörde I, AF 83.74: „Besprechung bei Kriminalrat Lyss“ vom 11. Mai 1940; Abgedruckt in: Apel 2009, S. 76 f.
6 Wolfgang Ayaß: „A s o z i a l e“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995 sowie Wolfgang Ayaß: Vom „Pik As“ ins „Kola-Fu“. Die Verfolgung der Bettler und Obdachlosen durch die Hamburger Sozialverwaltung. In: Projektgruppe f.d. vergessenen Opfer d. NSRegimes (Hg.): Verachtet-Verfolgt-Vernichtet. Hamburg 1988, S. 152-171, hier: S. 159 (z.a.: Ayaß 1988).
7 Ayaß 1988, S.156.
8 Ayaß 1988, S. 155.
9 Vgl. Angelika Ebbinghaus, Heidrun Kaupen-Haas, Karl-Heinz Roth (Hg.): Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungsund Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984 (z.a.: Mustergau 1984) und Ayaß 1988, S. 162f.
10 Die Grundlinien der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ wur-den am 14. Dezember 1937 in einem Erlass des Reichsund Preuß. Innenministers, Wilhelm Frick, formuliert. Darin wurde vor allem die Kriterien entwickelt, wie die „Polizeiliche Vorbeugungshaft“, also Präventiv-Verhaftung zur vorgeblichen Verbrechensverhinderung, anzuwenden sei. Tatsächlich bedeutete er vor allem: Einweisung in Konzentrationslager. Siehe: Ayaß 1995, S. 139 ff.
11 Nicht überraschend, ist Reinhard Heydrich Schöpfer dieses Schlagwortes. In einer Ansprache vor leitenden Mitarbeitern der Besatzungsverwaltung in Prag benutzte er am 2. Oktober 1941 die Formulierung „kämpfende Verwaltung“, um die von der SS gewünschte Denkhaltung in der Verwaltungsarbeit zu skizzieren. Siehe: Michael Wildt (Hg.): Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Hamburg 2003, S. 37.
12 StAHH Sozialbehörde I, AF 83.74: Bericht der Sonderdienststelle A (Stadtsekretär Hohm) in der Sozialbehörde: „Betrifft: Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 6. Juni 1940, abgedruckt in Apel 2009: S. 82 f.
13 Birgit Gewehr (Hg.) Stolpersteine in Hamburg-Altona. Biographische Spurensuche. Hamburg 2008, S. 30 f. (z.a.: Gewehr 2008).
14 Siehe: Heidrun KaupenHaas, Carola Osthaus: „Rassenschande“ beim Landgericht Hamburg. Die Forschung von Hans Robinson. In: Mustergau 1984, S. 93-95.
15 Gewehr 2008, S.31. Die Autor_innen der SOPADE dokumentieren sechs ab März 1939 wegen „Rassenschande“ vom Landgericht Hamburg verurteilte Juden. Unter den drei zur Höchststrafe von 15 Jahren Zuchthaus verurteilten befindet sich Dr. Jacobson (Hier irrtümlich als „Dr. Jacobsen“ aufgeführt). Siehe: IV. Judenverfolgungen (…) b) Judenfeindliche Rechtsprechung (A 98). In: Deutschland-Berichte der SOPADE 6. Jg. 1939, Nr. 7 (Juli 1939), Salzhausen/ Frankfurt/M. 1980, S. 917.
16 Gewehr 2008, S. 30. Zur Eppendorfer Adresse: Björn Eggert: Anton und Hedwig Münden, Beim Andreasbrunnen 3. In: Maria Koser / Sabine Brunotte: Stolpersteine in Hamburg-Eppendorf und HamburgHoheluftOst. Biographische Spurensuche. Band 2: M – Z. Hamburg 2010, S. 306-317.
17 Staatarchiv Hamburg (Hg.): Hamburger Jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S.192 und Gewehr 2008, S. 169.
18 Siehe: „Abgabe asozialer Justizgefangener an die Polizei – eine unbekannte Vernichtungsaktion der Justiz. Eine Dokumentation. In: Mustergau 1984, S. 21-25.
19 Vgl. Mustergau 1984, S.22: Am 10. Dezember 1942 wurden 22 Justizgefangene, darunter sog. „Rasseschänder“,
nach
Auschwitz deportiert. Sehr wahrscheinlich begann dieser Transport wie auch die anderen am Güterbahnhof Altona/Rainweg, wo die Hamburger Justiz ihre Gefangenen mit speziellen Gefangenenwagen der Reichsbahn in Gefängnisse und KZ „verschubte“.