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  Von Lothar Zieske

Auch wer sich nur oberflächlich mit der politischen Lage in Ungarn beschäftigt, besonders nach den Wahlen in diesem Jahr (es fanden sowohl Parlaments- als auch Kommunalwahlen stand), hat Grund, sich beunruhigt zu fragen:  „Was ist eigentlich in Ungarn los?“ Diese Frage versuchte die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky zu beantworten. Sie sprach im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ), die am 2. Dezember um 18.30 Uhr in den gemeinsamen Räumen der beiden Institute stattfand.


Wie sich im Laufe des Vortrags zeigte, machte sich der kulturwissenschaftliche Aspekt einerseits positiv bemerkbar – indem sie eine Perspektive einnahm, aus der heraus sie auch Außenstehenden neue Einsichten vermitteln konnte; aus dem Publikum wurde andererseits auch geäußert, dass der ökonomische, aber auch der parteigeschichtliche Aspekt zu wenig zum Tragen gekommen sei. Nach Abschluss der Diskussion war ein recht abgerundetes Bild entstanden.

 In Frau Marzovszkys Darstellung spielten kleine Filmausschnitte und Abbildungen eine wichtige Rolle, so dass ihre Darstellung der „völkischen Wende Ungarns“ in diesem Jahr – so charakterisierte sie die jüngste Entwicklung – sehr anschaulich wurde und es nicht bei den Begriffen „biologistisch“, „imperial“, „revisionistisch“ und „ausgrenzend“ blieb. Bekannt sind die antisemitische und antiziganistische, vielleicht auch noch die homophobe Ausrichtung der Regierungspartei FIDESZ und der noch rabiateren Partei Jobbik; erschreckender wird das Bild jedoch, berücksichtigt man, dass diese beiden Parteien nicht nur reale Personengruppen angreifen, sondern sich ihre Feindbilder konstruieren: So konnte z.B. auch die Sozialistische Partei Gyurcsánys mit noch größerem Erfolg angegriffen werden, als es allein schon nach dem Bekanntwerden von dessen „Lügenrede“[1] möglich gewesen wäre; diese Partei wurde als „verjudet“ bezeichnet und also solche bekämpft.

Die Hetze gegen Juden, Sinti und Roma, aber auch gegen Schwule wird in aller Öffentlichkeit unter Sympathiekundgebung großer Menschenmengen, die nach Tausenden zählt, verbreitet. Auch die Kirche beteiligt sich. Filmausschnitte belegten dies.

Die völkischen Organisationen haben sich eine eigene Infrastruktur geschaffen: Es wird für völkische Siedungen geworben; Festivals mit einem Publikum von mehreren Hunderttausenden werden abgehalten, auch außerhalb Ungarns (womit territoriale Ansprüche erhoben werden, vor allem gegenüber Rumänien); es gibt sogar Supermärkte, die sich an eine völkische Kundschaft wenden.Die jetzige Regierung Ungarns hat schon in ihrer kurzen Regierungszeit Pflöcke eingeschlagen: Ein Staatsbürgerschaftsgesetz erteilt allen die Staatsbürgerschaft, die im Gebiet des früheren Ungarn, wie es vor dem Trianon-Vertrag bestanden hatte[2], geboren sind – eine Provokation gegenüber Nachbarstaaten mit einer starken ungarischen Minderheit, wie Rumänien und die Slowakei; der Jahrestag von Trianon (4. Juni) wurde zum „Tag des nationalen Zusammenhalts“ erhoben; in die Präambel zur Verfassung wurde ein Gottesbezug eingefügt; das Gesetz, das die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellte, wurde geändert in dem Sinne, dass das Gleiche auch für die Leugnung des „Völkermords der Kommunisten“ gelten soll; aus den USA wurde die Bestimmung übernommen, dass nach drei Straftaten – gleichgültig, wie gravierend sie waren – die betreffende Person ihre Freiheit verliert. Die Medien sind fest in der Hand der Regierung.

Aus dieser Aufzählung wird deutlich, gegen wen sich die Politik der Völkischen richtet: gegen Nicht-Magyaren, die auf angeblich magyarischem Gebiet ansässig sind, gegen Opfer des Faschismus, gegen Arme und Obdachlose. Auffällig ist, dass die Kirche hofiert wird.

In ihrem Résumée äußerte Frau Markovszky die Befürchtung, dass die Demokratie in Ungarn vor dem Scheitern stehe; sie verglich – unter Bezugnahme auf den Historiker Fritz Stern – die Lage mit der im Deutschland der späten Weimarer Republik. Keine rosigen Aussichten!

In der Diskussion wurde schwerpunktmäßig die Frage behandelt, weshalb es gerade in Ungarn – zur Zeit des real existierenden Sozialismus gern als die “fröhlichste Baracke“ in Osteuropa bezeichnet – zu diesem extremen Rechtsruck gekommen sei. Die Antwort der Referentin, in der damaligen Periode sei die völkische – im Gegensatz zur internen –  Opposition von der Regierung toleriert worden und habe daher kontinuierlich weiter existiert, genügte nicht allen Teilnehmern; sie vermissten die ökonomische Perspektive, konnten sich aber mit der Referentin darüber verständigen, dass das Potenzial von Jobbik und FIDESZ aus Verlierern bestehe und dass die Einführung eines „wilden“ Kapitalismus nach 1989 eben diese Verlierer produziert habe. Die Rolle von Jobbib und FIDESZ im Rahmen dieser Entwicklung bestehe darin, dass sie Erlösungsversprechen bereit hielten. Daran, ob der „Fleiß der magyarischen Hände“ wirklich den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung für alle (auch nur für die nicht Ausgegrenzten – so könnten man ergänzen) erreichen werden, wurde heftig gezweifelt.


[1] Gyurcsány  hatte in einer geheimen Rede vor seinen Parteifreunden zugegeben, dass er die vorangegangenen Wahlen nur durch bewusst falsche Darstellung der ökonomischen Lage gewonnen hatte. – In der nachfolgenden Diskussion stellte die Referentin klar, dass es ihr fern gelegen habe, die Sozialistische Partei positiv darzustellen. Sie sei nicht nur Opfer der Hetze von FIDESZ und Jobbik, sondern habe ihrerseits auch einen völkischen Flügel, der zur Spaltungslinie der Partei zu werden drohe.

[2] Der Vertrag von Trianon (1920) gehörte zu den so genannten Pariser Vorortverträgen (wie der Vertrag von Versailles), die nach dem Ersten Weltkrieg geschlossen wurden.